Denselben Fehler sollte man nur einmal machen

Denselben Fehler sollte man nur einmal machen

Durch einen Blog-Artikel von Jan-Martin Klinge, den ich sehr schätze und gerne lese, und die gefühlte neue Aufbruchsstimmung im Twitterlehrerzimmer Richtung Bluesky ist dieser Beitrag entstanden, um mal meine Sicht der Dinge darzulegen. Dass Twitter bzw. X für Menschen, die ein positives Menschenbild haben und dazu noch Vorbild sein sollen, keine Plattform mehr darstellen kann, auf der man Inhalte generiert, hat Armin schon recht ausführlich dargelegt. Darum soll es hier auch nicht gehen.

Jan-Martin kommt in seinem Artikel zu dem Ergebnis, dass für ihn Bluesky die neue Plattform sei, auf der sich Bildungsinteressierte aus dem Twitterlehrerzimmer ab sofort austauschen sollten. Ich sehe das grundlegend anders, was ich hier begründen möchte.

Disclaimer: Ich habe versucht meine Sicht der Dinge möglichst neutral darzustellen, was natürlich nicht immer gelingt. Wo es sich arrogant oder vorwurfsvoll anhören sollte, bitte Rückmeldung, dass ich es ggf. deutlicher umformulieren kann.

Voraussetzungen für eine Community

Das Schöne am war die große Vielfalt. Wie bei einem Marktplatz der Möglichkeiten konnte man orts- und zeitunabhängig herumgehen und sich viele Dinge angucken, diskutieren und so neue Inspiration bekommen, selbst wenn man nur mitlas. Wenn sowas auf einer anderen Plattform neu entstehen soll, braucht es dafür ein paar Voraussetzungen. Hier stimme ich mit Jan-Martin in seinen genannten Punkten vollkommen überein:

  • Ein Austausch braucht Wertschätzung
  • Ein Austausch braucht Pflege
  • Es braucht eine “kritische Masse”, sich alleine oder in einer kleinen Bubble auszutauschen ist nicht so gewinnbringend.

Dinge, die er aber vergessen hat, zu erwähnen, die meiner Meinung nach aber auch mit einbezogen werden müssen:

  • Austausch braucht Zeit: Es wird schwieriger sich auszutauschen, wenn ich die dafür vorhandene Zeit (die eh immer knapp ist) auf verschiedene Plattformen verteilen muss.
  • Der Austausch sollte für alle gleich gut zugänglich sein: Das betrifft sowohl die technischen Voraussetzungen (Geräte, Bedienkompetenz) sowie die (moralischen) Haltungen der Betreiber der Plattform, mit allen möglichen Konsequenzen.
  • Die Plattform, auf der der Austausch stattfindet, sollte nachhaltig sein: Bei einem Umzug geht viel Zeit und Nerven drauf, man möchte nicht innerhalb eines Zweijahres-Rhythmus immer wieder umziehen.

Da Jan-Martin Mastodon als für sich gescheitert erklärt, möchte ich die einzelnen Voraussetzungen mal aus meiner Sicht mit Mastodon und Bluesky abklopfen und auch an der ein oder anderen Stelle widersprechen.

Wertschätzung und Pflege

Es wird (nicht nur von Jan-Martin) öfters geschrieben, dass Mastodon eine Plattform von Nerds für Nerds ist, Jan-Martin nennt sie liebevoll “engagierte OpenSource-Anhänger”. ;) Da ich mich vielleicht auch in diese Kategorie einordnen würde, ist meine Sichtweise natürlich anders. Wenn ich ein paar Jahre zurückgehe, würde ich auch sagen, dass er recht hatte.
Ich erlebe aber aktuell gerade beim Ankommen von neuen Nutzern (#neuhier), dass eine große Hilfsbereitschaft da ist, den Start zu erleichtern und bei Fragen zu helfen. Im Umgang miteinander sehe ich hier prinzipiell keinen großen Unterschied zu Twitter. Auch dort gab und gibt es Menschen, mit denen ich auch im realen Leben nicht länger kommunizieren möchte. In so einem Fall mute oder blocke ich, was auch bei Mastodon ohne weiteres möglich ist. Zu Bluesky kann ich hier mangels Erfahrung nichts sagen, aber Menschen verhalten sich im Netz in der Regel ähnlich, sodass ich hier die gleichen Effekte wie bei X oder Mastodon erwarten würde.

Kritische Masse

Als ich damals den Twitterlehrerzimmer-Bot geschrieben habe, war meine Grundmotivation eine Brücke zu Mastodon zu haben. Jeder Tweet, der von ihm retweetet wurde, konnte ich über einen Crossposter nach Mastodon holen und somit meine Zeit stärker auf eine Plattform konzentrieren. Dass er dann auch ein Stück zur Vergößerung der Community beitragen konnte, hat mich sehr gefreut. Der Bot hat im Moment noch knapp 6500 Follower, Tendenz fallend. Wie viele davon noch aktiv sind, kann ich nicht sagen, die kritische Masse für einen vielfältigen Austausch liegt meiner Meinung nach aber weit darunter, aber auf jeden Fall im vierstelligen Bereich. Zum Vergleich hat die Mastodon-Instanz bildung.social 2800 registrierte Nutzer, von denen knapp 1300 im letzten Monat aktiv waren. Das ist alleine von der Zahl und von den Beiträgen in der letzten Zeit, die ich unter dem Hashtag lese, meiner Meinung nach völlig ausreichend und sehr nah an einer kritischen Masse, wenn nicht sogar schon darüber. Dem FediLZ-Bot auf Mastodon folgen übrigens knapp 1000 Menschen, wenn man das alternativ als Gradmesser für die Größe der Community nehmen möchte. Wenn Jan-Martin von momentan 100 Lehrerinnen und Lehrern bei Bluesky spricht (Tendenz zwar bestimmt steigend), dürfte der Austausch dort noch weniger intensiv sein, als bei Mastodon zurzeit. Und jetzt kommt ein Punkt, der mir immer einen Knoten ins Hirn macht: Wenn ich Vielfalt möchte und nicht nur mit Nerds diskutieren will, dann muss ich doch ein Interesse dafür haben und dafür sorgen, dass auch andere Gesellschaftsgruppen dort hinkommen. Das erreiche ich aber nicht durch Abwertung einer Plattform. Als großer Account habe ich da die Möglichkeit (und meiner Meinung nach auch eine Verantwortung). Man kann also aktiv etwas tun, um die kritische Masse und damit auch eine Vielfalt zu erreichen.

Zugangsvoraussetzungen

Die Kern-Aussage “Mastodon ist zu kompliziert.” kann ich nur zu einem Teil unterschreiben. Ich will hier auch nicht die x-te Anleitung schreiben, das haben andere schon gemacht.
Wer sich für Bildungsthemen interessiert, geht auf bildung.social, registriert sich und legt los. Selbst wer seine Daten dort nicht hinterlassen möchte, kann die Beiträge, die auf dieser Instanz gepostet werden, ohne Anmeldung lesen.
Da ist also für den Start erstmal nichts komplizierter als bei Twitter oder Bluesky. Dass man diese Instanz kennen muss, ist klar, aber wer mit offenen Augen in den letzten Monaten durchs Twitterlehrerzimmer gegangen ist, sollte diese Seite mehrfach genannt bekommen haben. Wenn ich mich bei bildung.social angemeldet habe, muss ich mir auch erstmal keine Gedanken über die verschiedenen Timelines machen und kann direkt loslegen, Personen und Hashtags folgen (ja, das geht bei Mastodon!) und mich mit anderen austauschen. Die Besonderheiten von Mastodon kann ich mir immer noch im Laufe der Zeit aneignen. Ich behaupte auch, dass man das auch bei Twitter gemacht hat, seien es Listen, Tweetdeck einrichten, Einstellungen vornehmen, usw… Auch das hat Zeit benötigt, wird aber oft gerne verdrängt und als selbstverständlich, weil gelernt, angesehen.

Bei Mastodon gibt es übrigens auch Hashtags, nach denen man im Webinterface und bei Apps, die das implementiert haben, suchen und filtern kann. Das ist kein Exklusiv-Feature von Bluesky. (Edit: Anscheinend gibt es noch keine Hashtags bei Bluesky, danke an den klarstellenden Kommentar von DirkNB.)

Zu Bluesky brauche ich momentan einen Einladungscode, was erstmal eine höhere Hürde darstellt als irgendeine komplizierte Nutzung, es darf halt nicht jede(r) rein. Diese Pseudo-Exklusivität ist für mich schon das Ausschlusskriterium für eine offene Plattform, auch wenn es später mal geändert werden soll und vielleicht sogar berechtigte Gründe (langsames Wachsen) dafür gibt.

Nachhaltigkeit

Twitter hat gezeigt, dass jeder proprietäre Dienst den Besitzer wechseln kann. Ich sage meinen Schülerinnen und Schülern immer, dass sie sehr gerne Fehler machen dürfen, aber denselben Fehler bitte nicht ein zweites Mal. Ich würde mal behaupten, dass es keine bewusste Wahl von Twitter als Edu-Austausch-Plattform gegeben hat, sondern durch Mundpropaganda sich dort die Community über die Jahre gebildet hat. Wenn man jetzt die Chance hat, mit einem Neuanfang eine Plattform zu wählen, sollte man den Fehler von Twitter nicht wiederholen.
Ist Bluesky nun nachhaltig und damit geeignet für einen Neustart? Ehrlich gesagt kann ich das nicht klar beantworten und jeder, der meint, darauf eine eindeutige Antwort zu haben, soll mir bitte seine Glaskugel mal ausleihen für die nächsten Lottozahlen. Man weiß halt nicht in welche Richtung sich Bluesky entwickelt und kann nur den aktuellen Stand kritisch beurteilen. Die Ideen hinter Bluesky sind ähnlich zu Mastodon, aber bisher noch gar nicht vollständig umgesetzt. In der jetzigen Form ist es erstmal eine zentrale Plattform, die Nutzer generiert, um eine kritische Masse zu erlangen. Wie es dann weitergeht, wenn es so weit kommen sollte, kann niemand sagen. Es ist aber nicht ausgeschlossen, dass Bluesky ein ähnliches Schicksal wie Twitter ereilt, da sie früher oder später auch Gewinn abwerfen muss, um sich selbst zu tragen.
Ist Mastodon nachhaltig(er)? Meiner Meinung nach ja und das aus verschiedenen Gründen. Auch wenn es noch viele Ecken und Kanten hat, ist die Idee der dezentralen Organisation der entscheidende Unterschied zu Twitter und (noch) Bluesky. Es gibt halt keinen alleinigen Besitzer, der die Plattform an einen durchgeknallten Milliardär verkaufen kann. Es muss nicht gewinnbringend betrieben werden. Die Instanzen finanzieren sich über Spenden oder Eigenleistungen. Auch das kann natürlich den Nachteil haben, dass sich eine Instanz irgendwann verabschiedet. Dann ziehe ich innerhalb des Systems um. Ja, das ist auch ein Umzug, aber nur innerhalb des Hauses. Ich behalte meine Einbauküche, alle Möbel und mache Party mit denselben Leuten. Der Aufwand dafür ist verschwindend gering im Vergleich zu einer kompletten Neueinrichtung und dem Möbelwagen, den ich bestellen muss, um alles von A nach B zu karren.

Mastodon ist für die Bildungscommunity vielleicht nicht die total perfekte Lösung, aber es ist meiner Meinung nach momentan eine nachhaltige Plattform mit den wenigsten Nachteilen, die dazu auch durch die Community teilweise abgebaut werden können (z. B. die bald nutzbare Suchfunktion oder Zitiermöglichkeit).

7 Gedanken zu „Denselben Fehler sollte man nur einmal machen

  1. Ich kann bei allem nur zustimmen und die Entwicklung bedauern. Das mit den “OpenSource-Anhängern” zieht sich durch den Diskurs von Jan-Martin und anderen – Microsoft, Teams, WhatsApp, da gab es viele Diskussionen während der Schulschließungszeit. Oft bremse ich meine Arroganz, schlangenklug, aber innerlich nenne ich diesen Ansatz “Hauptsache, praktisch” und meine das als Vorwurf. – Tatsächlich empfinde ich Mastodon gar nicht als Open-Source-Gegenprodukt und weiß auch nicht, was daran komplizierter oder unpraktischer sein soll als bei Twitter. Aber aus irgendeinem Grund scheint die kritische Masse dort nicht erreicht zu werden; ob das bei Bluesky anders ist, weiß ich nicht.

  2. Jan-Martin ist auf die Presse hereingefallen. Circa 9 von 10 deutsch- und englischsprachigen Artikeln über das Fediverse implizieren, dass Mastodon und das Fediverse im Grunde dasselbe wären. Was es aber nicht ist. Es gibt z. B. noch Pleroma (bzw. dessen Fork Akkoma), Misskey et cetera. Darüber kann man sich in der englischsprachigen Wikipedia ausführlich(er) erkundigen.

    Und wenn es Artikel darüber gibt, welche Schule oder welche Behörde “jetzt im Fediverse” ist, machen sie das fast immer über einen Mastodon-Server (Instanz = Server, das ist der Terminus, den J-M nicht verstehen will).

    Die löbliche Ausname war, dass es vor ein bis drei Monaten es in der LinuxUser einen Artikel über Pleroma gab.

    > “Wenn ich Vielfalt möchte und nicht nur mit Nerds diskutieren will, dann muss ich doch ein Interesse dafür haben und dafür sorgen, dass auch andere Gesellschaftsgruppen dort hinkommen. Das erreiche ich aber nicht durch Abwertung einer Plattform”

    Es gab ja auch damals(TM) “Garagenbands” und wenn man eine Garagenband scheiße fand, hat man eine eigene gegründet statt gegenüber jedem, der es nicht hören wollte, darüber zu nölen, dass Band Dingsbums scheiße sei. Ich habe allerdings selbstverständlich Verständnis für jeden, der sagt: “Ich habe versucht, eine eigene Instanz aufzusetzen, aber dat is nix für mich. Zu kompliziert. Meine Freizeit ist mir zu kurz und kostbar, um auf Github herumzuhängen und zig manpages zu lesen.

    > “Die Kern-Aussage “Mastodon ist zu kompliziert.” kann ich nur zu einem Teil unterschreiben.”

    Diese Kernaussage liegt daran, dass viele Leute auf die Presse hereinfallen. Und Social Networks nicht ohne Algorithmen kennen.

    > “Da ist also für den Start erstmal nichts komplizierter als bei Twitter oder Bluesky. Dass man diese Instanz kennen muss, ist klar, aber wer mit offenen Augen in den letzten Monaten durchs Twitterlehrerzimmer gegangen ist, sollte diese Seite mehrfach genannt bekommen haben.

    E-Mail-Adresse + Passwort + Useraccountname. Wer intelligent genug war, um sich einen Account auf Twitter und/oder Facebook anzulegen, wird es auch im Fediverse hinbekommen.

    > “Mastodon ist für die Bildungscommunity vielleicht nicht die total perfekte Lösung, aber es ist meiner Meinung nach momentan eine nachhaltige Plattform mit den wenigsten Nachteilen, die dazu auch durch die Community teilweise abgebaut werden können (z. B. die bald nutzbare Suchfunktion oder Zitiermöglichkeit).”

    Die “Bildungscommunity” sollte lieber Pleroma verwenden, denn Mastodon als Software ist ziemlich bloated und skaliert schlecht bei hohen Userzahlen. Pleroma kann man hingegen bereits auf einem Einplatinenrechner installieren und es unterstützt Markdown, es hat also schon lange eine Zitiermöglichkeit.

    Ich bin von einer Mastodon-Instanz auf jemandes Pleroma-Instanz umgezogen, weil ich (als jemand, der nie einen Twitter-Account hatte) nach einer Weile festgestellt habe, dass Mastodons Zeichenbegrenzung in Höhe von 500 ganz schön nervig sein kann. Mein Posting habe ich in einem Editor verfasst und hierhin kopiert und dessen Statistik-Plugin hat mir angezeigt, dass ich etwas über 3.000 Zeichen benötigt habe. Also sieben verdammte “Tröts” für etwas, für das ich auf einer Pleroma-Instanz nur ein einzelnes Posting benötige.

      1. Was Klaus polemisch mit “auf die Presse herein(ge)fallen” umschrieb, war schlichtweg folgendes:

        Viele Journalisten haben Twitter-Accounts und Mastodon ist quasi ein Twitter-Klon mit optischen Anleihen bei Tweetdeck. Nach der Devise „Wat de Bur nich kennt, dat frett he nich.” tendieren sie also zu einem gewissen Bias in Richtung Mastodon.

        Hier ein Artikel zu Pleroma und Akkoma von Ende Mai diesen Jahres (dort ist übrigens eine [aus Usersicht] relativ wichtige Anmerkung in den Kommentaren):

        https://gnulinux.ch/fediverse-serie-pleroma-akkoma-einfache-kommunikation-im-fediverse

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